Horacio Potel ist Dozent für Philosophie. Weil in Argentinien Bücher teuer sind und viele Texte oftmals auch nicht verfügbar, stellte Potel die Texte für seine Studenten ins Netz. 2009 klopfte irgendwann nachts die Polizei an seine Türe – Potel wurde angeklagt, es drohten ihm mehrere Jahre Haft.
Argententinien gehört zu den Top10-Ländern der Welt, was die Härte des Urheberrechts angeht. Dabei kennt das argentinische Gesetz zum Urheberrecht weder Ausnahmen für Bibliotheken noch für Universitäten. Studenten und Dozenten, die auf das Kopieren von Lehrmaterial angewiesen sind, müssen dafür Abgaben an Verwertungsgesellschaften entrichten. Oder sie machen sich strafbar. Selbst die Privatkopie ist eine Straftat. Die Formatierung einer selbst gekauften CD ins MP3-Format oder der Remix stehen unter Strafe. Argentinien ist der feuchte Traum der Contentindustrie.
Doch zurück zu Horacio Potel. Im Reader “Argentina Copyleft”, der heute in Berlin vorgestellt wird (Livestream), findet sich ein Interview mit ihm. Das Interview findet ihr in voller Länge bei irights.info – hier ein paar Auszüge:
Wer hat dich verklagt? Haben sie eine außergerichtliche Einigung angeboten?
Die Argentinische Buchkammer (CAL) hat gemeinsam mit der Französischen Botschaft eine Strafanzeige wegen Verstößen gegen das sogenannte geistige Eigentum erstattet. Damit wurde ein Verfahren eröffnet, durch das ich fast im Gefängnis gelandet wäre. So wie die Dinge liefen, konnte es jedoch keine außergerichtliche Einigung geben. Die CAL und die Französische Botschaft haben sich damit begnügt, Anzeige zu erstatten, woraufhin der argentinische Staat als Kläger auftrat. Es gab also niemanden, mit dem man sich hätte einigen können, da es sich um ein Offizialdelikt handelte. Ich habe von der ganzen Sache erst 2009 erfahren, dabei stammt die Anzeige aus dem Jahr 2007, und zwar als die Polizei mitten in der Nacht an meine Tür klopfte, um meine Adresse zu überprüfen. Eine schreckliche Situation: Die Polizei sagte nur: „Sie werden schon wissen, worum’s geht”. Erst am nächsten Tag konnten wir am Gericht herausfinden, was Gegenstand der Anzeige war: Ich, ein Philosophieprofessor, wurde beschuldigt, philosophische Texte kostenlos zu verbreiten.
Erlebst du deinen Fall als Teil einer umfangreichen Debatte über die Verbreitung und den Zugang zu Kultur?
Dass das Internet uns die Möglichkeit gibt, uns von selbsternannten Fürsprechern und Beauftragten unabhängig zu machen und selbst aus unserem kulturellen Erbe auszuwählen, macht die Großen des alten Kulturbetriebes nervös, ebenso die Tatsache, dass die Verbreitung von Inhalten heute unendlich viel effizienter und günstiger realisiert werden kann, so dass sich der Traum von der freien Kultur für alle verwirklichen könnte.
Es wird einfach nichts getan, um die Bibliotheken des 20. Jahrhunderts angemessen auszustatten. Es fehlt an allem, die Bestände sind veraltet, und zugleich werden die Bibliotheken der Zukunft schon im Keim erstickt, indem man den Bibliothekaren ein Strafverfahren anhängt. Und der Gipfel des Ganzen ist, dass man sich dabei noch auf Gesetze beruft, die so pompöse Namen tragen wie das Gesetz zur „Förderung des Buches und der Lesekultur”, die aber letztlich über die Verteidigung der Vervielfältigungsmonopole gerade das Verschwinden von Texten und Lesekultur absegnen. Man darf ja nicht vergessen, dass mein Prozess letztlich zur Schließung von drei öffentlichen Bibliotheken führen sollte. Das war das Ziel der Argentinischen Buchkammer und des Kulturattachés der Französischen Botschaft. Das Vorhaben ist zum Glück gescheitert.
So wenig wie wir darauf hereinfallen dürfen, zu denken, dass «das Buch» den Vertretern der Verlagsbranche gehört, dürfen wir auch nicht denken, dass das Urheberrecht die Rechte des Urhebers verteidigt. Das Gegenteil ist der Fall. Das Copyright begünstigt die Kontrolle über unser kulturelles Erbe durch eine schrumpfende Zahl privater Eigentümer. Das Urheberrecht ist das Medium, dessen sich die Konzerne bedienen, die Bücher drucken, um sich die Werke der Autoren für die rein kommerzielle Nutzung anzueignen, so dass alle anderen Unternehmen, die Autoren inbegriffen, der Möglichkeit beraubt werden, diese – beziehungsweise ihre eigene – Arbeit zu reproduzieren. Das Urheberrecht gewährt ein Monopol auf die Verwertung von Inhalten, und wie jedes Monopol verhindert es Wettbewerb, der zumindest zu einem Rückgang der exorbitanten Preise für Bücher führen könnte. Das ist besonders schwerwiegend in einem Land wie dem unseren, wo die allermeisten Philosophiebücher von ausländischen Konzernen gedruckt werden, wofür wir dann tief in die Tasche greifen müssen.
Kultur, Wissen und Tradition sind nicht das Werk der „Autoren”. Es ist bemerkenswert, dass die gleichen Herren, die die aufgeklärten Ideen des freien und souveränen Individuums zu Grabe getragen haben, um uns das dem Konsum unterworfene Subjekt zu verkaufen, nun an die Metaphysik der Subjektivität appellieren, wenn es darum geht, mehr zu verdienen. Und es ist merkwürdig, dass sie das gerade in diesem Fall tun, wo doch sowohl Heidegger als auch Derrida sich der Idee der schöpferischen Subjektivität als Ursprung und Ursache des „Werks” oder des „Buches” widersetzt haben. Es gibt keine privilegierten, von der Muse geküssten Atome, die unter den passiven Massen Licht verbreiten. Es gibt keine Atome, und die Verfasstheit des „Autors” erwächst wie alles aus der Wandlung dessen, was vorher bereits existierte.
Heidegger und Derrida haben darauf hingewiesen, wie vor oder im Prozess der Entstehung eines Subjekts, das sich „Ich” nennt, schon eine ganze Welt existiert, dass wir geformt sind, bevor wir sind, durch Erbe und Tradition, durch die Übermittlung und das Fortbestehen von Botschaften. Mehr noch, für Derrida beginnt alles mit einer Aufforderung: mit einem „Komm”. Das „Komm” ist die Sendung, die zum Senden aufruft, die erste E-Mail, die die Korrespondenz einfordert, in der wir uns bereits befinden, Korrespondenz mit dem anderen, der immer schon da ist. Diese Sendung zu kappen, ist gleichbedeutend mit dem Tod, und genau das ist es, was die militanten Fundamentalisten des Urheberrechts dem Internet aufzwingen wollen, um es zu domestizieren und es als Werkzeug zum Verkauf des eigenen Tands zu benutzen. Aber wie Derrida bereits sagte: „Ich erbe etwas, das ich selbst weitergeben muss: Das mag schockieren, aber es gibt kein Eigentumsrecht auf das Erbe.” Es ist dieses Erbe, das niemandem gehört und uns alle prägt; es ist die gemeinsame Gabe, auf die das Neue gebaut wird, um die sich die Angriffe gegen die freie Kultur drehen.
Das Interview steht unter einer CC-BY-NC-SA Lizenz und wurde von Beatrice Busaniche geführt.